Von Einsamkeit, Langeweile, Glück und Liebe im Alter: Camille de Perettis neuer Roman „Wir werden zusammen alt“
Von Marlene Biermann
Sie lästern und zanken, sie lieben und sie hassen sich, viele haben noch Träume und Wünsche, die sie sich erfüllen wollen. Andere sind ohne Hoffnung, haben sich bereits aufgegeben oder bekommen sowieso nichts mehr mit. Die Bewohner der Seniorenresidenz „Les Bégonias“ sind so unterschiedlich, wie Menschen sein können. Doch sie alle haben etwas gemeinsam: Sie befinden sich am Ende der Einbahnstraße des Lebens; sie sind hier – die meisten von ihnen unfreiwillig „eingewiesen“ –, um zu sterben. Die französische Autorin Camille de Peretti widmet sich in ihrem neuen Roman „Wir werden zusammen alt“ dem heiklen Thema des Lebens im Altenheim und begibt sich damit auf eine Gratwanderung. Dem Sujet nähert sie sich dabei mit viel Liebe und Humor, aber auch mit einer in diesem Zusammenhang recht ungewohnten Leichtigkeit. Ob sie dem Thema damit allerdings immer gerecht wird, ist fraglich.
Es ist Sonntag, Hauptbesuchstag in der Seniorenresidenz „Les Bégonias“ in Paris. Madame Alma, Madame Buissonette und Madame Barbier sitzen im Aufenthaltsraum. Es ist 9.15 Uhr, bis 10.55 Uhr müssen sie die Zeit noch irgendwie totschlagen, dann kommt die Messe auf France 2. Der riesige Flachbildschirm, „der größte, den es auf dem Markt gibt“, deutet an, dass es sich um ein Altenheim der gehobenen Klasse handelt. Aber auch hier ist das langsame Verstreichen der Zeit ein Problem, mit dem die Bewohner zu kämpfen haben. Auch die kratzbürstige Nini Lieber wartet. Zweimal hat ihre Nichte Camille sie schon versetzt, daher stehen die Chancen gut, dass sie heute zu Besuch kommen wird. Viele halten Nini für verrückt und nicht mehr zurechnungsfähig, doch bekommt sie sehr wohl noch alles mit. Sie merkt, wie Camille sich immer mehr von ihr abwendet, immer öfter einen Vorwand findet, warum sie nicht vorbei kommen kann. Dabei will Nini doch nur ein bisschen geliebt werden. Gegenliebe erhofft sich auch Alphonse Destroismaisons, der regelmäßig seine an Alzheimer erkrankte Frau Geneviève, genannt „die Baronin“, besucht. Alphonse tut alles für sie, die er heiß und innig liebt und der er sein Leben lang treu war. Sie hingegen erkennt ihn nicht mehr, hält ihn sogar zeitweise für einen ihrer Liebhaber. Das alles verletzt Alphonse auf schier unerträgliche Weise und trotzdem kann er sie nicht im Stich lassen. Immer noch ist da die Hoffnung, sie könnte ihn wieder erkennen und ihn genauso lieben, wie er sie. Aber auch positive Geschehnisse ereignen sich im „Les Bégonias“, so finden Robert und Thérèse zueinander und erfahren am Ende ihres Lebens noch einmal die große Liebe.
Viele weitere Schicksale werden zum Inhalt des Romans, dabei werden nicht nur die Perspektiven der Bewohner, des Heimleiters und des Pflegepersonals beschrieben, sondern auch die der Besucher. So erfahren wir auch den Grund, warum Ninis Nichte sich immer seltener im „Les Bégonias“ blicken lässt. Die Besuche sind für sie eine Kraftprobe, die sie eine Menge Überwindung kosten. „Nur ein Stündchen, dann kannst du zurück in dein verwöhntes Leben als Pariser Dämchen, mit dieser einen Stunde erkaufst du dir zwei Wochen Ruhe“, so die Gedanken der von Schuldgefühlen geplagten fünfundzwanzigjährigen Camille. „Nini macht ihr Angst, Alter und Krankheit machen ihr Angst.“
Die gesamte Handlung des Romans vollzieht sich an diesem einen Oktobersonntag. Jedes der insgesamt 64 Kapitel gibt abwechselnd einen fünfzehnminütigen Einblick in die Gedankenwelt und die Aktivitäten eines der Protagonisten. Camille de Peretti bedient sich dabei einer sehr lockeren, vor allem in der ersten Hälfte des Romans häufig überspitzten und flapsigen Sprache, die dem Geschehen eine leichte und oft amüsante Wirkung verleiht. „Wir werden zusammen alt“ ist bereits der dritte Roman Camille de Perettis, aber der erste, der in deutsche Sprache übersetzt wurde. De Peretti wurde 1981 in Frankreich geboren und arbeitet heute als freie Autorin in Paris. Der formalen Gestaltung ihres Romans liegt ein besonderes Konzept aus der Tradition der französischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde. Für den Schreibprozess werden vorab strikte Regeln festgelegt, welche zum Beispiel aus dem Bereich der Mathematik stammen können. De Perettis Vorbild dabei ist Georges Pérec, der Protagonist der Literatengruppe „Ouvroir de la littérature potentielle – OULIPO“. Sichtbar wird das Konzept bei de Peretti am Aufbau ihrer Kapitel, in welchen sie in 15-Minuten-Schritten Perspektiven und Schauplätze innerhalb eines Hauses wechselt, bis sich schließlich die Handlung vom Ausgangspunkt der Fußmatte des Empfangs bis in alle anderen Räume der Seniorenresidenz ausweitet.
Camille de Peretti verfügt über eine grandiose Beobachtungsgabe und versteht es, die Besonderheiten der Alten mit ihren ganz eigenen Charakterzügen liebevoll herauszuarbeiten. Auch beweist sie großes Talent und Feinfühligkeit in der Beschreibung von Gefühlen, was besonders in der zweiten Hälfte des Romans, in welchem wir mehr über das oft tragische Leben der Senioren vor ihrer Zeit im „Les Bégonias“ erfahren, deutlich wird. Einsamkeit, Langeweile, Hoffnungslosigkeit, aber auch Glück und Liebe im Alter sind die zentralen Themen des Romans.
Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Autorin die wirklich heiklen Themen des Lebens im Altenheim geschickt umgeht. Das fängt schon damit an, dass sie als Schauplatz kein gewöhnliches Altenheim wählt. Das „Les Bégonias“ ist wohl eher eine Ausnahme, ein Nobel-Altenheim für die gehobene Gesellschaftsschicht, die sich den Lebensabend in einem besseren Heim leisten kann. Trostlosigkeit, Schmutz und Gestank sind hier – anders als in der Großzahl der gewöhnlichen Altenheime – nicht die beherrschenden Eindrücke. Zwar scheint es auch hier hygienische Mängel zu geben (einmal ist von Uringeruch die Rede, ein andermal geht es um getragene Windeln, bei Ninis Tod wird eine Blutlache beschrieben), doch werden diese von de Peretti nur beiläufig am Rande erwähnt. Der Tod, noch ein unangenehmes Thema, wird ins Skurrile gezogen, als der Leichnam einer Heimbewohnerin von Ameisen bevölkert wird und der Heimdirektor zusammen mit der Pflegerin Josy dem Ungeziefer mit Insektenspray zu Leibe rückt.
So gelingt es de Peretti zwar, rührende Einblicke in die Ängste und Freuden alter Menschen zu geben, die nachdenklich stimmen. Dadurch aber, dass sie die heiklen Themen des Altwerdens weitestgehend unangetastet lässt und dem Geschehen zusätzlich mit ihrer lockeren Sprache eine leichte Wirkung verleiht, ist ihr Roman auch nicht viel mehr als eine beschönende Inszenierung fern der Realität.
Camille de Peretti: Wir werden zusammen alt
Roman
Rowohlt
Reinbek 2011
288 S., 19,95 Euro